'Siehe die grünen Wiesen und reichhaltigen Gärten des Weißen Bergs.'
Anaira schauderte wohlig. Die alten Überlieferungen, diese frühen Beschreibungen ihrer Welt... Immer wieder versenkte sie sich in die Betrachtung des Kristalls, der diese kostbaren Erinnerungen hielt. Es gab ihr Sicherheit, ließ sie das Alter und die Unvergänglichkeit ihrer Heimat spüren.
'Siehe die
grünen Wiesen und reichhaltigen Gärten des Weißen Bergs. Preise
die Mutter, die all dies erschuf und bis heute bewahrt.
Der
Weiße Berg ist uns Engeln Heimat und Lebensquell. Im Licht der
Reflexionen seiner strahlenden Wände werden wir geboren, die Früchte
seiner Gärten nähren uns und Sie wacht über uns in Ihrer
unendlichen Güte.
Folge deiner Bestimmung in diesem Leben und
suche die Berufung deiner Alten Seele.
Liebe. Habe Vertrauen.
Teile. Bewahre. Folge dem alten Weg.
Einst gab es nur Sie und
uns, die reine Harmonie. Der Weiße Berg wuchs und bot Platz für
mehr Leben in den unterschiedlichsten Formen. Sie erschuf die
Menschen, die Tiere und die Pflanzen, um uns Aufgaben zu geben, damit
wir über sie wachen konnten.
Wir Archivare sammelten
Wissen.
Wir Heiler bewahrten das Gleichgewicht.
Wir
Beschützer leiteten auf sichere Wege.
Es war gut. Alles wuchs
in Ihrem Licht.'
Anaira schauderte wieder. Dieses Mal zog sich ihre Haut zusammen, als würde ein Eisregen auf sie niedergehen. Sie wusste, welche Ungeheuerlichkeit der Kristall gleich enthüllen würde, denn es war eine wirklich alte Geschichte. Dieses Gefühl des gedämpften Entsetzens und des tiefen Verlustes stellte sich trotzdem jedes Mal wieder ein.
'Licht wirft
Schatten, wenn sich ihm jemand in den Weg stellt.
Der engste
Berater der Mutter war fasziniert von diesen Schatten. Er studierte
ihr Wesen und verlor sich an ihre Abgründe. Er behauptete, dass es
immer mindestens zwei Seiten geben müsse. Dass Freude und Liebe
nicht existieren können, wenn es nicht auch Trauer und Hass gebe.
Dass dies zumindest für die von Ihr Erschaffenen gelten müsse.
Sie
umfing ihn mit Ihrem Licht, um ihm seinen Irrtum zu zeigen, doch er
wandte sich nur seinem Schatten zu.
Er entschied sich dafür,
die Dunkelheit willkommen zu heißen. Die Gier. Die Wut. Er brachte
sie unter die Menschen, bot ihnen neue Wege an. Und einige wandten
sich ihm zu, erlagen dem Wunsch nach Macht über andere.
Die
Mutter wollte Ihre Schöpfung schützen. In einer außerordentlichen
Anstrengung brach Sie ein gewaltiges Stück unserer Welt ab und
trennte uns von unseren Schützlingen.
Doch in Ihrer Liebe
unterschätzte Sie, wie absolut Ihr Berater von seiner Idee überzeugt
war.'
Heiße Tränen rannen über Anairas Wangen. In diesen Aufzeichnungen, diesen destillierten Erinnerungen, lag so viel Schmerz, dass es sie jedes Mal mitriss.
'Er stellte sich
gegen Sie und verkündete, dass er den Weißen Berg verlassen werde
um eine eigene Enklave zu gründen. Von dort aus werde er die
Menschen die neuen Wege lehren, ihnen zeigen, was Stärke und Triumph
sind.
Er durchquerte die grünen Weiten, bis er das Ende der
verbliebenen Welt erreicht hatte. Von dort aus riss er entzwei, was
nicht getrennt werden sollte. Der Weltenbruch entstand. Diese brutale
Tat forderte auch die Leben einiger Gefährten, deren Seelen verloren
gingen.'
Sie hatte schon
öfter im Sand gestanden, knapp vor dem alles verschlingenden Wirbeln
im Riss. Bis heute konnte sie kaum glauben, dass Er einmal ein
Gefährte gewesen war, Ihr oberster Berater. Die Mutter hatte sich
nie zu den alten Überlieferungen geäußert, doch der Weltenbruch
existierte unbestreitbar und auch das Reich der Menschen war Anaira
nur als unabhängige Welt bekannt.
Schlimmer als den Weltenbruch
empfand sie jedoch die Schließung.
Sie schätzte sich
glücklich, dass sie inzwischen nicht mehr dort draußen sein musste.
Sehen musste, wie Gefährten verletzt wurden. Starben. Wie es gerade
der Fall war.
Sie drängte den Gedanken zurück, beruhigte sich
durch tiefe Atemzüge und wandte ihre ganze Konzentration wieder der
alten Überlieferung zu.
'Die Mutter
wollte diese Trennung nicht hinnehmen, doch sie war zu geschwächt,
um die Teile der Welt wieder zu vereinen. Und ihre Kräfte
regenerierten sich nicht wie gewohnt, was sich zu diesem Zeitpunkt
niemand erklären konnte.
Als Sie wieder dazu bereit war, zog
Sie die getrennten Lande zusammen, schloss den Weltenbruch und
schickte Gefährten hinüber, um zu erkunden, wo Ihr Berater sich
befand und was er tat.
Die Engel kamen mit beunruhigenden
Nachrichten zurück. Auf der anderen Seite des Weltenbruchs hatte
sich das Land verändert; es gehörte nicht mehr zum Weißen Berg.
Die Wiesen waren verödet, nur noch roter Sand und nackte Steine
übrig. Der Berater hatte das Leben anscheinend nicht erhalten
können. Oder wollen. Die Gefährten waren ihm nicht begegnet, doch
war sein Einfluss überall zu spüren gewesen.
Trauer ergriff
die Mutter. Trauer ergriff uns. Die Öden entglitten Ihrem Griff und
die Schließung fand ein Ende. Das getötete Land verschwand hinter
Wirbeln aus greifbar gewordenem Schmerz, fast in Reichweite, doch
unerreichbar.
Für einige Zeit pflegten wir die verbliebenen
Gärten und kümmerten uns um die Menschen, so weit uns dies trotz
der Trennung der Reiche gelang. Unsere Aufgaben bestanden weiterhin;
es gab keinen Grund sie zu vernachlässigen.
Doch dann häuften
sich die Anzeichen für einen verderblichen Einfluss.
Die
Menschen verwandten ihre Energien zunehmend auf schädliche Taten,
gaben Macht den Vorzug vor Güte, Hass und Wüten den Vorzug vor
Liebe.
Mit Erschrecken erkannten wir, dass der Berater
mitnichten verschwunden war. Er beeinflusste die Menschen in seinem
Sinne, pflanzte Schatten als Saat in ihre Seelen. Ihre Energien
flossen ihm zu, minderten die Kräfte der Mutter.
Ein weiterer
Kraftakt der Mutter, eine erneute Schließung brachte die
entsetzliche Gewissheit: Er hatte seine Ankündigung wahr gemacht.
Auf seiner Seite des Weltenbruchs hatte er sich in den Boden gegraben
und falsche Gefährten erschaffen, mit deren Hilfe er die Menschen
beeinflusste.
Diese falschen Gefährten, Dämonen genannt,
lebten nur für seine Ideale.
Sie lebten für die gefühllose
Logik, die rein dem Machtgewinn zugetan war.
Sie lebten für die
Gier und die Lust, ausschließlich zum eigenen Nutzen.
Sie
lebten als Verkörperungen von Wut und dem Rausch durch Schmerz und
Vernichtung.'
Ränkeschmiede.
Verführer. Kriegstreiber.
Heute hatten sie Worte für diese
Dämonen. Und einen Namen für das verlorene Land: Die Roten
Tiefen.
Anaira sinnierte wieder einmal, dass es erstaunlich war,
wie selbstverständlich die heutige Ordnung der Reiche sich für sie
anfühlte. Selbst sie, die alle alten Überlieferungen aufsog wie
lebenswichtiges Mana, kannte es doch nicht anders. Ihre Erinnerungen
an die Zeit des Anfangs war höchstens noch verschwommen zu nennen,
und sie wusste, dass es den anderen Erzengeln nicht anders ging. Um
so wertvoller waren ihr die Kristalle.
'Einige
Gefährten mussten die neuen Erkenntnisse teuer bezahlen, denn die
Dämonen waren nicht wie sie. Sie hatten kein Interesse an einem
Austausch, einer friedlichen Koexistenz oder gar daran, die Lehren
des Weißen Bergs zu übernehmen, um die vorgesehene Ordnung wieder
herzustellen.
Sie überfielen die Gefährten, töteten sie,
verfolgten die Flüchtenden bis an die Hänge des Weißen Bergs. Erst
das Drohen des erneuten Weltenbruchs ließ sie zurückweichen, bevor
sie größeren Schaden anrichteten.
Seit dieser Zeit bewegen
sich der Weiße Berg und die öden Lande immer wieder aufeinander zu,
um sich kurz danach wieder zu trennen.
Das Reich der Menschen
hat sich zu einer eigenständigen Welt entwickelt, die sich nicht
mehr an die ursprüngliche Ordnung erinnert. Doch der Weiße Berg und
die öden Lande bleiben zwei Teile eines zerbrochenen Runds, nach
Vereinigung strebend, abgestoßen vom jeweils anderen.
Die Zeit
der Schließung ist eine Zeit des Krieges geworden.
Wir mussten
uns verändern und müssen doch bleiben, wer wir sind.
Wir
Archivare sammeln Wissen und bewahren den alten Weg. Unsere Treue ist
ein Fels.
Wir Erhebende bemühen uns um Heilung und
Gleichgewicht. Unsere Liebe lässt das Leben gedeihen.
Wir
Schlachtenengel bieten Schutz und Kraft. Unser gerechter Zorn ist
euer Schild.
Für die Menschen. Für uns. Für die Mu...'
„Ehrwürdige
Anaira?" Die Archivarin hob den Blick von dem Kristall in ihrer
Hand, der von der häufigen Benutzung schon ganz abgegriffen war. Das
Band riss, nur ein paar letzte sonnengelbe Schwaden hingen in der
Luft.
Sie nickte dem Engel zu; eine Aufforderung zu
sprechen.
„Die Zählungen weisen eine Unregelmäßigkeit auf."
Der besorgte Gesichtsausdruck des rotschopfigen Archivars
beschleunigte Anairas Puls augenblicklich. Eine Unregelmäßigkeit?
Sie berührte einen Kristall an ihrer Kette, bewahrte diesen
Augenblick. Etwas Bedeutsames war geschehen.
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