Gerade hatte sie das Geschirr in den Geschirrspüler geräumt und begonnen sich wegen des immer schlechter werdenden Wetter Sorgen um Chief zu machen, als Yurikos Handy auf der Anrichte zu summen begann. Sie schloss die Klappe und warf einen Blick auf das Display, auf dem ein Foto von Vian zu erkennen war. Sie hatte es heimlich gemacht, während er schlief.
Yuriko lächelte sanft, nahm das Telefon in die Hand und tippte zweimal auf die gläserne Scheibe, einmal um den Anruf anzunehmen und noch einmal, um den Lautsprecher einzuschalten.
„Hey Schatz, da bist du ja. Wir dachten schon, du hättest uns vergessen. Du bist auf Lautsprecher, wir wollten dich auch gleich anrufen.“
Mit dem Telefon in der Hand ging sie ins Wohnzimmer, wo die Kinder auf dem Sofa lagen und einen Cartoon schauten.
Jetzt setzten beide sich auf, als Vians Stimme aus dem Telefon klang: „Entschuldigt, ich wollte mich schon viel früher melden, aber es war immer so spät und ich wollte euch nicht wecken. Ich hoffe, ihr habt euch keine Sorgen gemacht.“
Sie konnte hören, dass er erschöpft war, bemerkte es am Klang seiner Stimme.
„Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht, aber wir wussten auch, dass du viel zu tun hast“, erwiderte Yuriko und ließ sich zwischen ihren Kindern auf dem Sofa nieder.
Sofort kam Joié auf die Füße, hielt sich mit einer Hand an der Schulter ihrer Mutter fest und sah auf das Telefon in deren Hand hinunter.
„Daddy, das Monster ist wieder da!“, rief sie aufgeregt, den Blick fest auf das Display gerichtet, als schaue sie ihren Vater direkt an. „Aber Chief hat es verjagt. Kommst du bald wieder nach Hause, bitteeee~? Ich will, dass wir einen Ausflug an den Strand machen, so wie Luka.“
Vian lachte leise, während Joié weiter vor sich hinplapperte, ließ sie aber zu Ende erzählen, bevor er antwortete: „Hey Engel, mach‘ mal langsam, ich komme ja gar nicht mehr mit. Was für einen Ausflug willst du machen? Ich bin bestimmt bald wieder da, aber ein bisschen dauert es noch. Aber in drei Tagen fangen eure Ferien an. Habt ihr Mum schon überredet, mit euch zu Onkel Noah nach Rim zu fahren?“
Jetzt zog Aiden das Telefon am Handgelenk seiner Mutter ein bisschen näher zu sich. „Nein, noch nicht, aber wir versuchen das jeden Tag! Irgendwie will sie das nicht, aber ich weiß nicht warum.“
Mit gerunzelter Stirn sah er zu seiner Mutter. „Mum, warum willst du nicht zu Onkel Noah fahren?“
Auch Yuriko musste jetzt lachen. „Ich hab doch gar nicht gesagt, dass ich nicht hinfahren will, sondern nur, dass wir erst abwarten müssen, bis die Ferien angefangen haben. Ich kann nicht einfach nicht mehr zur Arbeit gehen. Und außerdem muss ich erst nachfragen, ob es Noah passt.“
Durch die Stimmen ihrer Kinder, die jetzt weiter auf sie einredeten, hörte Yuriko Vian leise seufzen und schloss kurz die Augen, um sich seinen Gesichtsausdruck vorzustellen.
Sie wünschte sich, ihn fragen zu können, was vor sich ging. Natürlich verfolgte sie die Nachrichten, doch die Presse erhielt kaum Nachrichten über geheime Operationen wie die, auf der Vian sich gerade befand. Doch sie wusste auch, Vian würde ihr nicht alles erzählen können, noch weniger, während die Kinder dabei waren und sie wollte ihnen nicht die Zeit stehlen.
So saß sie einfach da, hörte zu, während Joié und Aiden ihrem Vater von all den Dingen erzählten, die sie in den letzten Tagen erlebt hatten. Ihr fiel auf, dass Aiden den Streit mit John nicht erwähnte, aber sie sagte nichts dazu.
Als es an der Haustür klingelte, sah Yuriko auf und reichte Aiden das Mobiltelefon. „Ich geh schnell die Tür öffnen, ja? Keinen Streit, wenn ich bitten darf.“
Die Kinder nickten. Sie erhob sich und ging zur Haustür.
Durch die Scheibe konnte sie Sophias Ehemann Merick erkennen und runzelte die Stirn. Es regnete mittlerweile in Strömen, und sie fragte sich wieso Merick bei diesem Wetter und noch dazu in der Dunkelheit unterwegs war.
Sie öffnete die Tür und wickelte ihren Cardigan ein wenig fester um sich. „Nanu Merick, was machst du denn hier?“ Schon entdeckte sie Chief an der Seite des Mannes und musste unwillkürlich lächeln. „Habt ihr euch getroffen?“
Der Mann erwiderte ihren Blick und nickte flüchtig, bevor er sich dem ungemütlichen Wetter zuwandte und in Richtung des Waldes deutete. „Ja, ich hab ihn im Wald entdeckt und dachte, er hat sich vielleicht verlaufen und ich bring ihn euch besser zurück, bevor ein Ast auf ihn drauf fällt. Ist n ganz schöner Sturm da draußen, dauert nicht mehr lange, bis es richtig losgeht. Ich war vorhin noch angeln, darum war ich überhaupt draußen. Hat ja keiner ahnen können, dass das Wetter heute noch so wird.“
Er wandte sich wieder zu ihr um und hob die Angel in der linken Hand einmal an.
Erst jetzt sah Merick Yuriko richtig an und trat einen Schritt näher. „Ist alles in Ordnung, Mädchen? Du bist blass wie n Blatt Papier. Ich hoffe, keine schlechten Nachrichten von Vian?“
Die junge Frau machte einen Schritt zurück und griff nach einem Handtuch, mit dem sie Chiefs Fell und seine Pfoten abtrocknete. „Nein, keine schlechten Nachrichten, die Kinder reden gerade mit ihm. Es ist nur…“
Einen Moment lang zögerte sie, nicht sicher, wie viel sie Merick erzählen sollte. Dann atmete sie tief durch. „Es ist nur so, dass Joié vorhin jemanden durch unseren Garten hat laufen sehen, das bereitet mir etwas Sorgen.“
Sie warf dem Mann ein schwaches Lächeln zu und hockte sich neben den Hund, der ihr zutraulich die Pfote reichte.
Merick, der sich gerade seine Kapuze wieder zurecht zog, winkte mit einer Handbewegung ab. „Das kommt hier draußen doch öfter vor, dass irgendwelche Jugendlichen durch die Gärten schleichen, weil sie es witzig finden, die Anwohner n wenig zu erschrecken. Ich hab vorhin im Wald auch welche getroffen. Jugendliche mein ich, ein junges Pärchen.“
Der Mann lachte dröhnend auf. „Haben sich ziemlich erschrocken, als ich sie überrascht hab und sich aus dem Staub gemacht. Ich bin sicher, der Junge wollte seine Freundin nur n bisschen beeindrucken und ihr n paar von euren herrlichen Brombeeren schenken.“
Merick zwinkerte Yuriko zu, die sich jetzt wieder aufrichtete und ihm zulächelte. „Ja, das ist gut möglich. Jedenfalls, vielen Dank, dass du Chief zurückgebracht hast. Hätte ich gewusst, dass das Wetter sich so entwickelt, hätte ich ihn gar nicht alleine nach draußen gelassen.“
„Is schon gut, Mädchen. Wenn ihr wollt, kommt morgen doch vorbei. Sophia vermisst die Kinder und dich. Sie hat heute n Kuchen gebacken. Sie freut sich bestimmt.“
Yuriko nickte zustimmend und verabschiedete sich von dem Mann, bevor sie die Tür hinter sich schloss.
Erleichtert atmete sie durch. Es war also doch nur ein dummer Streich gewesen und sie musste sich wegen der Gestalt im Garten keine Sorgen machen.
Blieben noch die Bilder.
Doch jetzt drängte sie auch die Gedanken daran beiseite, kehrte ins Wohnzimmer zurück, um noch ein wenig Vians Stimme zu lauschen, bevor sie die Kinder zu Bett brachte.
Eine Stunde später schliefen die beiden zufrieden in Yurikos Bett, während sie selbst noch ein wenig aufräumte und sich ein bisschen Ruhe gönnte, bevor sie sich dazulegen würde. Sie saß in eine Decke gewickelt, mit einem Glas Tee neben sich, auf dem Sofa, ein Buch auf dem Schoss und las. Doch ihre Gedanken drifteten immer wieder ab.
Chief, der an ihren Füßen lag, döste friedlich, seine Pfoten zuckten ab und zu. Offensichtlich träumte er.
Yuriko dachte an das Gefühl im Supermarkt und an die Fotos, die in einem Briefumschlag auf ihrer Kommode lagen.
Es waren ausschließlich Aufnahmen von ihr selbst. Eine zeigte sie, wie sie mit Aiden und Joié am See im Wald gewesen war, an dem Tag als Vian abgereist war. Die Kinder waren aus dem Bild herausgeschnitten worden.
Außerdem waren da auch andere Aufnahmen von ihr, vorm Krankenhaus, im Auto oder wie sie sich mit einer Mutter aus dem Kindergarten unterhielt.
Jedes Mal waren Personen, die sich außer ihr noch auf den Fotos befunden haben mussten, herausgeschnitten worden —nur einzelne Finger oder Abschnitte von Füßen waren noch zu sehen.
Das letzte Bild zeigte sie in eines der dunkelroten Duschtücher gewickelt, wie sie sich mit einem kleineren Handtuch die Haare trocknete. Das Bild musste aus der Nähe aufgenommen worden sein, und sie dachte daran, dass, wer auch immer dieses Bild gemacht hatte, sie wahrscheinlich beim Duschen beobachtet hatte.
Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, unsicher, wie sie auf die Aufnahmen reagieren sollte. Sie wusste, dass es richtig gewesen wäre, sich an Noah oder einen anderen Agent zu richten und eine Ermittlung ins Laufen zu bringen.
Doch sie wusste auch, dass Vian in diesem Fall unweigerlich von der Sache erfahren würde und das wollte sie gerade auf gar keinen Fall. Ihr war wichtig, dass er sich auf den Einsatz konzentrieren konnte, auf all die Gefahren, die ihn unmittelbar umgaben und sich nicht ablenken ließ.
Trotzdem machten Yuriko diese Fotos Angst. So viel Angst, dass sie bereit war, sich und ihre Kinder eine Weile aus der Gefahrenzone zu nehmen und für ein paar Tage zu Freunden zu fahren.
Obwohl Aiden und Joié bisher täglich versucht hatten, sie zu einem Besuch bei Noah und seiner Freundin zu überreden, hatte sie noch gezögert, dem Vorschlag zuzustimmen.
Sie wollte ihren Freunden keine Unannehmlichkeiten bereiten. Doch nachdem sie den Umschlag mit diesen Bildern erhalten hatte, wusste sie sich nicht mehr anders zu helfen.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es schon spät war. Sie wählte Noahs Nummer dennoch, hob ihr Telefon ans Ohr und wartete.
Sie wollte schon wieder auflegen, als die Stimme des jungen Mannes auf dessen Mailboxansage erklang: „Hey, hier ist Noah. Sorry, ich bin gerade auf nem Einsatz unterwegs oder anderweitig beschäftigt. Hinterlass’ ne Nachricht, ich ruf zurück sobald ich kann. Bis dann!“
Ein Signalton erklang und Yuriko seufzte leise. „Hey Noah, ich bin’s. Ich dachte, ich meld mich mal wieder. Ich wollte fragen, ob du in den nächsten Tagen etwas Zeit für uns hättest. Du weißt sicher, dass Vian unterwegs ist und wir drei könnten ein bisschen Ablenkung gebrauchen…“
Sie lachte leise, um die Situation weniger drängend wirken zu lassen, wusste aber selbst, wie gekünstelt es klang und ahnte, dass der andere sie vermutlich entlarvte, sobald er seine Mailbox abhörte. Trotzdem sprach sie schnell weiter: „Aber du bist unterwegs, darum klappt das wohl nicht.“
Sie dachte einen Moment nach und biss sich kurz auf die Unterlippe als sie darüber nachdachte, Noah doch ins Bild zu setzen. Dann schüttelte sie für sich selbst den Kopf.
„Ich hoffe, es geht euch gut. Melde dich doch ruhig mal, wenn du wieder da bist. Bis dann.“
Rasch lies Yuriko das Telefon wieder sinken und hielt es einen Moment in ihrem Schoss. Ein Besuch bei Noah war also keine Option.
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