Es war, als würde sie ständig auf etwas warten, was nie passierte.
Wie sonst auch brachte Yuriko die Kinder früh morgens in den Kindergarten und holte sie am Nachmittag wieder ab. In der Zwischenzeit arbeitete sie im Krankenhaus oder kümmerte sich um Chief und den Haushalt. Zum Glück nahmen ihre Nachbarn den Aussie, wenn sie arbeitete.
Yuriko versuchte so gut es ging, ihre Routinen als Familie aufrecht zu erhalten, doch es fiel ihr schwer. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass Vian für längere Zeit verreiste und sie sich tagsüber sonst auch selten sahen, belastete die Situation Yuriko dieses Mal mehr als sonst. Sie war sich selbst nicht sicher warum. Vielleicht war es die Ungewissheit über die Dauer des Einsatzes. Und obwohl sie großes Vertrauen in Chief hatte, der ein guter Wachhund war, kam ihr der Hund in letzter Zeit verändert vor.
Mit einem nachdenklichen Kopfschütteln versuchte die junge Frau ihre Gedanken los zu werden. Gerade war sie auf dem Weg zum Supermarkt, um noch ein paar kleinere Einkäufe zu erledigen, bevor sie die Kinder abholte. Sie parkte ihren Wagen auf einem freien Parkplatz im Schatten eines Baumes und stieg aus. Ein Windstoß erfasste ihr offenes Haar und wehte es ihr um den Kopf. Mit wenigen Schritten ging sie zum Kofferraum und nahm ihren Einkaufskorb heraus.
Einen Moment lang fühlte sie sich, als würde sie beobachtet und sah sich einmal um, ohne jemanden zu entdecken. Mit einer Handbewegung schloss sie den Wagen ab, schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf und ging hinüber zum Eingang des Ladens.
Während sie durch die Gänge lief und hier und da ein paar Dinge in den Korb fallen ließ, beschlich sie immer wieder dieses merkwürdige Gefühl. Sie spürte Blicke, die sie verfolgten, konnte jedoch niemanden entdecken. Gänsehaut schlich sich ihre Arme hinauf und Yuriko entschied, den Einkauf so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Mit rascheren Schritten als zuvor lief sie zum Kühlregal hinüber und wollte gerade nach einem Joghurt greifen, als jemand ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sie erschrak heftig und ihr Korb fiel zu Boden.
„Oh, das tut mir leid, Yuriko, ich wollte dich nicht erschrecken“, erklang eine Stimme hinter ihr und sie drehte sich um, erleichtert ein bekanntes Gesicht vor sich zu sehen.
Die Frau hinter ihr hatte einen Sohn in Aidens Alter und die beiden besuchten die gleiche Kindergartengruppe. Ohne zu wissen, wieso sie sich so sehr erschrocken hatte, schüttelte Yuriko abwehrend den Kopf in Richtung der anderen Frau: „Ach, kein Problem, Sarah, ich war nur gerade in Gedanken und hab alles um mich herum vergessen.“
Sie lächelte Sarah kurz zu und bückte sich, um die Einkäufe aufzusammeln. Als sie sich wieder aufrichtete, strich ihr Blick über Sarahs runden Bauch und sie musste lächeln. „Ich wette, Kilian freut sich schon unglaublich auf sein kleines Geschwisterchen.“
Die andere Frau strahlte glücklich und strich sich eine Strähne ihres rotblonden Haares aus dem Gesicht, während sie mit der anderen Hand über ihren Bauch fuhr. „Wir bekommen ein kleines Mädchen. Ich hoffe, dass sie und Joié sich anfreunden werden, wenn sie ein bisschen größer ist.“
Yuriko nickte lächelnd und nahm ihren Korb in beide Hände. „Bestimmt. Lange kann es ja nicht mehr dauern, hm?“
Die beiden Frauen unterhielten sich eine Weile, während sie gemeinsam ihre restlichen Einkäufe erledigten und Yuriko bot Sarah an, ihr zu helfen, die vollen Tüten ins Auto zu verfrachten. Da diese nur halbherzig ablehnte, gingen sie schließlich gemeinsam zu Sarahs Auto. „Danke, Yuriko. Bei mir würde es vermutlich etwas länger dauern.“
Die Brünette schüttelte wieder lächelnd den Kopf als sie die letzte Tüte in den großen Kofferraum stellte. „Das mach ich doch gern.“
Sie zwinkerte Sarah noch einmal zu und stellte ihren eigenen Korb in dem Einkaufswagen der anderen ab. „Jetzt muss ich aber los, die beiden warten bestimmt schon. Es war sehr nett, dich zu treffen, Sarah, ich wünsche euch alles Gute für die Geburt. Melde dich, wenn du danach etwas brauchst, ja?“
Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, machte Yuriko sich auf den Weg zum Kindergarten.
Als sie an dem bunt angestrichenen Haus ankam und durch das Tor auf den Spielplatz trat, war sie schnell von Kindern umringt. Vor einiger Zeit war sie regelmäßig hierher gekommen, um den Kindern vorzulesen. Viele der Kleinen kannten sie noch, andere waren mit Aiden oder Joié befreundet, sodass Yuriko ein bekanntes Gesicht für sie war.
Lächelnd hob sie eine grüßende Hand in Richtung der Erzieherin und hockte sich dann vor die Kinder, die auf sie einredeten und ihr von ihrem Tag berichteten oder ihre bunten Turnschuhe bewunderten, ihr im Gegenzug ihre eigenen Schuhe zeigten. Eines der kleinen Mädchen reichte ihr eine winzige Butterblume, die sie wohl gerade erst gepflückt hatte und Yuriko lächelte ihr zu. „Das ist lieb von dir, Amy, vielen Dank. Du, sag mal, weißt du, wo Joié und Aiden sind?“
Bisher hatte sie sich vergeblich nach ihren Kindern umgesehen. Die Kleine nickte, wobei ihr lockiges, weiches Haar heftig auf und ab hüpfte. „Aiden hat John gehauen und musste drinnen bleiben. Und Jo ist im Sandkasten.“
Verwundert runzelte Yuriko die Stirn über den ersten Teil der Aussage, bedankte sich aber bei dem kleinen Mädchen und ging hinüber zu dem großen Sandkasten, in dem sie ihre Tochter gemeinsam mit ein paar anderen Kindern entdeckte.
Mit einem liebevollen Schmunzeln pikste sie Joié sacht mit dem Zeigefinger in die Seite, nahm sie in den Arm, als sie sich zu ihr umdrehte und einen freudigen Laut ausstieß. „Na, Süße, hast du heute Spaß gehabt?“
Sie drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange, die ihr die Arme um den Hals schlang und wild nickte. „Ja, Amy und ich haben eine Bude gebaut, mit Luka zusammen und dann ist Luka früher abgeholt worden, weil sie einen Ausflug macht, mit ihrer Mama und ihrem Papa und ihrem kleinen Bruder, an den Strand. Können wir auch bald einen Ausflug machen, Mummy? Mit Daddy?“
Yuriko nickte einmal und hob ihre Tochter auf den Arm, während sie hinüber zum Gebäude ging, um zu sehen, wo Aiden war. „Sobald Daddy wieder da ist und Aiden sein Baumhaus bekommen hat, können wir das bestimmt machen, Süße.“
Kaum hatte sie den Raum betreten, als sie ihren Sohn auch schon entdeckte. Er saß auf einem Teppich, die Aufmerksamkeit einem schiefen Turm zugewandt, den er mit Holzklötzen gebaut hatte.
Yuriko setzte ihre Tochter ab, bat sie leise, ihre und Aidens Sachen zu holen und wandte sich der zweiten Erzieherin zu, die ein Stück von Aiden entfernt neben einem anderen Jungen am Tisch saß und sich sein gemaltes Bild ansah. Der Junge hieß John und Yuriko wusste instinktiv, dass nicht nur Aiden Schuld an dem Streit gehabt haben musste.
Bei ihrem Anblick erhob sich die Erzieherin und winkte sie mit sich zur Tür. „Hallo Misses Tate. Ich habe versucht, bei Ihnen zuhause anzurufen, Sie aber dort nicht erreicht. Tut mir leid, dass das passiert ist. Die beiden sind sich wohl gerade nicht besonders gut gesonnen.“
Yuriko nickte einmal und sah die Erzieherin an, die Stirn gerunzelt: „Was ist denn passiert?“
Sie sprachen beide leise, denn noch hatte keiner der Jungen Yurikos Ankunft bemerkt. „Es ging um das Baumhaus-Thema. Leider hat John etwas gesagt, was nicht besonders taktvoll war. Ich muss dringend mit seinen Eltern darüber reden.“
Die Erzieherin warf einen Blick zu dem Jungen am Tisch und seufzte leise. „Er sagte, dass es sein könne, dass Aidens Dad nicht wieder nach Hause kommt und er kein Baumhaus bekommt. Da wusste Aiden wohl einfach nicht mehr, wie er reagieren sollte…“
Sie sah Yuriko wieder an und runzelte besorgt die Stirn. „Es tut mir leid, ich weiß, dass es nicht Aidens Schuld war, aber er weiß, dass er andere Kinder nicht schlage darf… Wie sieht es denn aus, haben Sie schon von Ihrem Mann gehört? Wird er bald wieder Zuhause sein?“
Yuriko schüttelte nur schockiert den Kopf, sah zu ihrem Sohn hinüber, der in diesem Moment aufblickte und sie entdeckte.
Ohne dem Spielzeugturm auch nur einen weiteren Funken Aufmerksamkeit zu schenken, kam er auf die Füße, lief auf sie zu, sprang in ihre Arme und schlang die seinen um ihren Hals, als sie ihn hoch hob.
Sie legte ihm eine Hand auf den Hinterkopf und drückte ihn sacht an sich, spürte, wie der kleine Körper leicht bebte und wiegte ihn sacht auf und ab. „Ist schon okay, Aiden, ganz ruhig.“
Sie warf der Erzieherin einen kurzen Blick und ein Nicken zu und sah sich nach Joié um, die in der Tür stehen geblieben war. Sie hielt ihren eigenen und Aidens Kindergartenbeutel und auch die Schuhe ihres Bruders in den Armen. Ihre eigenen Schuhe hatte sie falsch herum angezogen und sah nun zu ihrer Mutter und ihrem Bruder auf.
„Was hat Aiden denn?“, fragte sie besorgt, doch Yuriko schüttelte nur mit einem Lächeln den Kopf und nahm ihr die kleinen Stofftaschen ab.
„Er ist ein bisschen traurig, Engel. Er vermisst Daddy. Komm, lass uns nach Hause fahren, ja?“ Sie schwang sich die Taschen über die Schulter, streckte die Hand nach Joié aus und verließ mit ihrer Tochter an der Hand und Aiden auf dem Arm den Gruppenraum.
Yuriko wählte mit Absicht den Weg durchs Gebäude, um nicht wieder auf all die Kinder zu treffen, führte ihre Kinder zurück zum Auto und bat Joié, neben ihr stehen zu bleiben, während sie Aiden in seinem Sitz absetzte.
Die Augen des Jungen waren feucht vor Tränen und er versuchte verzweifelt die kleinen Schluchzer, die seiner Kehle entschlüpften, zu unterdrücken. Yuriko drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und legte ihm den Sicherheitsgurt an, obwohl er das inzwischen eigentlich schon alleine konnte.
Sie wusste, John hatte mit seinen Worten unbewusst ins Schwarze getroffen und Aiden vor Augen geführt, wovor er am meisten Angst hatte — nämlich, dass es sein könnte, dass er seinen Vater nicht wiedersah.
„Mach dir keine Gedanken, Aiden. Daddy kommt bestimmt bald wieder.“ Yuriko wusste, dass es falsch war, ihm etwas zu versprechen, auf das sie keinen Einfluss hatte, doch sie wollte zumindest versuchen, ihn zu trösten.
Bevor sie die Tür schloss und Joié auf den Arm nahm, strich sie ihm noch einmal über den dunklen Haarschopf und sah ihn an. Dass er ihrem Blick auswich, tat ihr weh und doch verstand sie, warum er versuchte, nicht wieder zu weinen.
Während sie Joié um den Wagen herum trug, sah diese sie nachdenklich an. „Wieso ist Aiden denn traurig, Mummy?“
Yuriko musste ein wenig lächeln und strich auch ihrer Tochter kurz durchs Haar. „Weil sein Freund John etwas gesagt hat, das ihn einfach traurig gemacht hat. Aber vielleicht können wir ihn ein bisschen aufheitern, hm?“
Sie hielt kurz inne, bevor sie die Wagentür öffnete, um auch ihre Tochter in den Sitz zu setzen und anzuschnallen. Mit gerunzelter Stirn warf sie noch einen Blick zu Aiden, der aus dem Fenster sah und dessen Unterlippe noch leicht bebte. Sie seufzte lautlos und ging zur Fahrertür des Wagens.
Die Fahrt über waren beide Kinder schweigsam. Sonst wetteiferten sie stets darum, wer seine Erlebnisse als erstes erzählen durfte. Doch Yuriko ließ sie in Frieden.
Sie konnte Aiden verstehen, auch sie machte sich langsam Sorgen um Vian. Er war jetzt seit sechs Tagen unterwegs und hatte sich seit dem ersten Abend nicht wieder gemeldet. Gerade Aiden, der an diesem Abend keine Chance gehabt hatte, ein paar Worte mit seinem Vater zu sprechen, nahm sich das sehr zu Herzen, war traurig und enttäuscht.
„Was meint ihr, wollen wir heute Abend versuchen, Dad anzurufen? Er vermisst uns bestimmt ganz schön.“
Über den Rückspiegel warf sie ihren Kindern einen Blick zu. Während Joié begeistert die Arme in die Luft warf, hin und her wackelte und darauf bestand, jetzt gleich anzurufen, zuckte Aiden nur stoisch mit den Schultern und sah weiter aus dem Fenster.
Yuriko seufzte leise und konzentrierte sich wieder auf die Straße, die aus dem Zentrum der Kleinstadt hinaus in eine ländlichere Gegend zwischen Wäldern und Feldern führte.
Zu der kleinen Nachbarschaft, in der sie wohnten, gehörten fünf Häuser mit Gärten. Eines der Häuser, direkt neben ihrem eigenen, wurde von einem älteren Ehepaar bewohnt, das gerade in den Ruhestand eingetreten war, als sie hergezogen waren. Als die Frau, Sophia, von Yurikos Schwangerschaft erfuhr, hatte sie ihr und Vian angeboten, ab und an auf das Kind aufzupassen und so kam es dazu, dass Aiden und Joié auch heute ab und zu den Abend bei Nana Sophia verbrachten, wenn ihre Eltern einmal zu zweit Essen gingen oder andere abendliche Termine anstanden.
Die beiden älteren Leute mochten Aiden und Joié sehr, da sie selbst keine Enkel hatten. Yuriko selbst war im Laufe der Zeit die Rolle einer Ziehtochter zugekommen, die das Paar nie gehabt hatte.
Der restliche Tag stellte für Yuriko erneut eine Herausforderung dar. Nachdem sie die Einkäufe ausgepackt und gemeinsam mit den Kindern die ersten Vorbereitungen fürs Abendessen getroffen hatte, verbrachten sie noch ein wenig Zeit im Freien, gingen mit Chief ein Stück im Wald spazieren und schlenderten schließlich gemütlich zurück nach Hause. Doch Aidens Stimmung blieb bedrückt.
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