Der Tag war langsam vergangen und anstrengend gewesen. Vielleicht, weil die Kinder nicht wie üblich in den Kindergarten gegangen waren. Yuriko hatte große Mühe gehabt, sie zu beschäftigen. So war es immer, wenn Vian verreisen musste.
Trotzdem sie wusste, dass seine Arbeit wichtig war, hatte sie sich schon einige Male gewünscht, er wäre in einem anderen Bereich tätig. Sie vermisste seine Gegenwart schon jetzt und wusste, dass dieses Gefühl über die nächsten Tage und Wochen hinweg nur größer werden würde.
Das Abendessen hatten sie gemeinsam zubereitet. Während des Essens hatte Joié mehrfach gefragt, wann Vian wieder nach Hause kommen würde. Yuriko hatte ihre eigene Sorge zurückgestellt und der Kleinen mehr als einmal erklären müssen, dass dies erst in einigen Wochen der Fall sein würde. Aiden war sichtlich genervt von den ständigen Fragen seiner Schwester, sodass er ihr während des Zähneputzens schließlich kräftig an den Haaren gezogen hatte. Yuriko wusste, dass der Junge so etwas normalerweise nicht tat und seine Schwester sehr lieb hatte. Trotzdem hatte der kleine Konflikt an ihren Nerven gezerrt.
Mittlerweile waren beide Kinder eingeschlafen und sie selbst war noch einmal nach draußen in den Garten gegangen, um sich mit Chief zu beschäftigen. Die Arbeit mit ihrem tierischen Mitbewohner hatte sie bisher immer gut ablenken können.
Als es jedoch anfing zu regnen, beeilte Yuriko sich, zurück ins Haus zu kommen. Rasch gab sie den Zahlencode ein, der die Terrassentür verschloss, öffnete diese und trat ein. Sie ließ auch Chief hinein, der sich draußen noch das Wasser aus dem Fell geschüttelt hatte, und schloss die Tür wieder hinter sich ab. Während der Hund sich nach einer weiteren kurzen Streicheleinheit in seinen Korb legte, schlüpfte sie selbst aus den Schuhen, prüfte zum wiederholten Mal die Schlösser im Haus, schaltete die Lichter im unteren Geschoss aus und lief dann die Treppe hinauf, um noch einmal nach den Kindern zu sehen. Ein Blick auf die Uhr im Flur zeigte ihr, dass es mittlerweile spät geworden war und sie sich beeilen musste, wenn sie noch eine heiße Dusche nehmen und vor dem nächsten Morgen genügend Schlaf bekommen wollte.
Nachdem sie sich versichert hatte, dass beide Kinder tief und fest schliefen, betrat sie über ihr Schlafzimmer das Bad, schälte sich aus den feuchten Klamotten und betrat die Duschkabine. Rasch stellte Yuriko das Wasser auf eine angenehme Temperatur, stand einen Moment einfach nur unter dem heißen Strahl und ließ sich davon berieseln. Dann fing sie an, sich das Haar zu shampoonieren und ihren Körper einzuseifen. Dabei strich sie sich über Haut und Haar, wusch den Schmutz und die Anstrengung, sowie die Sorgen des Tages von sich ab. Nur wenig später trat sie wieder aus der Dusche und wickelte sich in das große dunkelrote Duschhandtuch.
Sie wollte schon aus dem Bad schlüpfen und sich für die Nacht fertigmachen, als ihr Blick auf Vians Shirt fiel, das er am Morgen in den Wäschekorb geworfen hatte. Ohne lange nachzudenken, nahm Yuriko das Shirt und zog es sich über den Kopf. Mit einem tiefen Atemzug sog sie den Duft ihres Mannes auf, ging noch hinüber, um das kleine Fenster zu schließen, das bisher offen gewesen war, um die warme Sommerluft hinein zu lassen. Anschließend verließ sie das Bad, um sich umzuziehen und ins Bett zu gehen.
Lautlos überquerte sie den Teppich und ließ ihren Blick über das leere Bett schweifen. Nachdem sie ein Höschen aus ihren Schrank geholt und sich die Haare gekämmt hatte, ließ Yuriko sich seufzend auf ihrer Bettseite nieder. Sie sah kurz auf ihr Handy um sicherzugehen, dass sie keinen Anruf ihres Mannes verpasst hatte, rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
Vian hatte sich bei ihr melden wollen, sobald er am Einsatzort ankam. Bisher hatte sie noch nichts von ihm gehört. Sie ahnte, es war sinnlos, sich schon jetzt Sorgen zu machen. Sicherlich war er bisher einfach noch nicht dazu gekommen, hatte noch keinen freien Moment gehabt. Yuriko schloss die Augen, fest entschlossen mit dem Sorgen machen noch bis zum nächsten Morgen zu warten.
Etwa eine halbe Stunde lang hatte sie sich schlaflos hin und her gewälzt als das leise Summen ihres Telefons sie endlich erlöste. Noch während das Gerät zum ersten Mal vibrierte, hatte Yuriko es in der Hand und nahm den Anruf an: „Vian, bist du das?“
Sie hörte ihn am anderen Ende der Leitung leise lachen, ließ sich wieder auf den Rücken sinken und zog die Bettdecke bis zu ihrem Kinn hinauf. Sein Lachen brachte auch sie zum Lächeln und sie schloss die Augen, um sich vorzustellen, er läge neben ihr im Bett.
„Ja, ich bin's. Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde, aber hier geht’s wirklich extrem stressig zu.“
Sie gab ein kleines Geräusch von sich, ließ ihn aber weiter erzählen. Sie wusste, er konnte besser denken, wenn sie ihm zuhörte, weswegen er sie häufig um ein offenes Ohr bat, ohne ihr dabei sensible Informationen weiter zu geben.
Vian arbeitete jetzt schon seit einigen Jahren als Teil der strategischen Leitung des Militärs und war unter anderem auch für die Planung von Evakuierungen, vor allem von Zivilisten aus Kriegs- und Krisengebieten verantwortlich. Häufig konnte er von einer Basis in ihrer Nähe oder sogar von Zuhause aus arbeiten, denn meist lagen genügend Informationen über die betroffenen Gebiete vor, sodass er sich nicht einen Überblick vor Ort verschaffen musste. Nur in absoluten Ausnahmefällen war dies nötig, da der größte Teil seiner Arbeit darin bestand, die Einsätze der militärischen Einheiten auf Grundlage der vorliegenden Informationen theoretisch zu planen, so viele Szenarien wie möglich durchzuspielen und möglichst alle Eventualitäten aus dem Weg zu räumen, die den Einsatz gefährden könnten.
„Schon während des Fluges haben wir neue Informationen rein bekommen und kaum waren wir hier, hat uns ein Helikopter direkt über das Gebiet geflogen, von dem wir denken, dass die meisten Zivilisten sich dort aufhalten. So konnten wir uns zwar auch räumlich einen Überblick verschaffen aber deswegen bin ich jetzt erst ins Bett gekommen.“
Er schwieg einen Moment und seufzte dann frustriert.
„Du glaubst nicht, wie schlimm es hier aussieht... Und du glaubst nicht, wie sehr ihr mir fehlt. Was machen die beiden Räuber? Halten sie dich auf Trab?“
Die junge Frau nickte und gab einen zustimmenden Laut von sich. Leise berichtete sie ihrem Mann von den Geschehnissen des Tages und strich dabei mit der Spitze ihres Zeigefingers über den Stoff des Bettbezugs.
„Wir waren heute Nachmittag im Wald picknicken, das hat sie zum Glück ein wenig ablenken können, aber beim Vorlesen vorhin hat Jo dann erst richtig verstanden, dass du weg bist, glaube ich. Sie hat geweint und nach dir gejammert... na ja, du kennst sie. Wir haben dann alle gemeinsam in Aidens Bett gekuschelt, bis sie beide eingeschlafen waren und ich Jo in ihr Bett tragen konnte. Aber ich rechne beinahe damit, dass sie noch einmal aufwacht, um ehrlich zu sein.“
Yuriko drehte sich jetzt auf die Seite, hielt das Telefon weiter an ihr Ohr und atmete leise aus.
„Wie sieht es denn aus, kannst du schon sagen, wie lang der Einsatz ungefähr dauern wird?“
Ein frustriertes Seufzen klang durch den Hörer an ihr Ohr und Vian verneinte ihre Frage mit leiser Stimme.
„Es sieht viel schlimmer aus, als wir bisher gedacht hatten, darum ist es wirklich gut, dass wir jetzt hier sind. Aber wir werden wohl erst einmal noch ein paar Tage brauchen, um Vorbereitungen zu treffen und die Lage richtig einschätzen zu können und zu verhindern, uns selbst oder andere in größere Gefahr zu bringen.“
Fast konnte Yuriko sehen, wie ihr Mann sich mit der freien Hand durch das dunkle Haar fuhr und leicht den Kopf schüttelte.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich unbedingt jetzt hierher fliegen und dich mit den Kindern allein lassen musste, Yuriko. Ich wäre viel lieber bei euch geblieben.“
Seine ehrlichen Worte ließen ihr warm ums Herz werden und sie lächelte sanft.
„Das weiß ich doch. Mach dir keine Vorwürfe, Vian.“
Ein sachtes Fußtrappeln auf dem Flur lenkte sie ab und Yuriko rollte sich herum, um einen Blick zur halb offenen Tür zu werfen. Dort stand, vom Licht aus dem begehbaren Kleiderschrank beleuchtet, Joié, Kuschelotter und Decke in jeweils einer Hand und Tränen im Gesicht.
Das Mädchen schluchzte leise. Die Beule, die Folge des Sturzes von heute Vormittag, war ein wenig bläulich angelaufen, allerdings hatte die Kleine sich den Tag über relativ normal verhalten. Yuriko glaubte nicht, dass sie sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte.
Mit einem leisen Seufzen setzte sie sich jetzt auf und streckte die Hand nach dem Mädchen aus.
„Jo, was machst du denn hier? Wieso bist du nicht im Bett, hm?“
Auch vom anderen Ende der Leitung hörte sie einen leisen, seufzenden Laut, konzentrierte sich aber weiter auf ihre Tochter, die leise schluchzend und langsam auf sie zu tapste. Yuriko ließ das Telefon auf die Bettdecke sinken.
„Ich will das Daddy wieder nach Hause kommt, jetzt sofort! Im Garten ist ein Monster, Daddy soll kommen und das wegjagen!“
Die Stimme der Kleinen klang verletzt und weinerlich und Yuriko verzog leicht das Gesicht. Sie streckte die Arme aus, hob Joié neben sich auf die Matratze und tippte dann mit einem Finger auf den Bildschirm ihres Telefons, um den Lautsprecher einzuschalten. Dann wischte sie ihrer Tochter vorsichtig die Tränen von den Wangen, während sie leise sprach.
„Jo, du musst keine Angst haben. Wenn da wirklich ein Monster im Garten ist, wird Chief es verjagen. Und sieh mal, Süße, Daddy ist am Telefon. Ihm geht‘s gut. Magst du ihm noch gute Nacht sagen? Er geht jetzt auch gleich schlafen.“
Die kleine Gestalt kuschelte sich an sie und warf dem leicht glimmenden Telefon einen skeptischen Blick zu.
„Ist das würklich Daddy?“
Vians tiefe Stimme klang warm und weich, als er mit seiner Tochter sprach.
„Ja, Engel, ich bin’s. Kannst du mich hören? Wieso bist du denn noch auf, es ist doch schon spät, hm? Kleine Mädchen wie du sollten um diese Uhrzeit schon längst schlafen.“
Endlich schlich sich wieder ein Lächeln auf das Kindergesicht und Joié kuschelte sich noch mehr an ihre Mutter, eindeutig müde.
„Daddy, kommst du ganz bald wieder nach Hause, bitte? Ich will, dass du mir weiter meine Gute-Nacht-Geschichte vorliest. Und du musst das Monster weg jagen, das hat durch mein Fenster geguckt. Und das hat so gruselige Augen...“
Jetzt klang ein leiser, fragender Laut aus dem Telefon. Yuriko konnte das stirnrunzelnde Gesicht ihres Mannes vor ihrem inneren Auge sehen und schloss Jo ein wenig fester in den Arm.
„Aber die Monster haben wir doch heute Morgen noch zusammen mit Aiden und Chief verjagt, Jo. Und, macht Mummy das etwa nicht gut genug, mit dem Vorlesen?“
Das Mädchen schüttelte wild den Kopf, dachte nicht daran, dass ihr Vater sie ja gar nicht sehen konnte.
„Doch, aber sie macht nicht so witzige Stimmen wie du manchmal. Darum sollst du mir doch vorlesen.“
Der Gedanke daran, dass Vian beim allabendlichen Vorlesen mit seiner Tochter seine Stimme verstellte, ließ Yuriko schmunzeln. Wenn er wollte konnte er so ein Quatschkopf sein.
„In Ordnung, Engel. Vielleicht suchst du dir für die Zwischenzeit ein anderes Buch aus, das Mummy dir vorlesen kann, und wenn ich wieder da bin, lesen wir das Buch zu Ende, okay? Meinst du, das ist eine gute Idee?“
Auf Vians Vorschlag hin nickte Joié gähnend und rollte sich auf der Seite neben ihrer Mutter zusammen.
„Okay, Daddy. Gute Nacht, ich hab dich sehr lieb.“
Offensichtlich war Joié beruhigt, hatte auch die Monster vergessen, steckte sich ihren Daumen in den Mund und schloss die Augen.
„Gute Nacht, mein Engel. Träum süß.“
Yuriko nahm das Telefon jetzt wieder auf, strich ihrer Tochter mit der anderen Hand durch das weiche Kinderhaar und schaltete den Lautsprecher wieder aus.
„Ich wusste gar nicht, dass du deine Stimme beim Vorlesen verstellst. Vielleicht kannst du mir ja auch mal was vorlesen, hm?“
Sie wusste, er würde das verschmitzte Lächeln aus ihrer Stimme heraushören können. Wieder lachte er leise und sie wünschte sich, ihre Lippen auf seine legen zu können.
„Wenn du mich ganz lieb bittest, vielleicht. Aber meine normale Stimme gefällt dir doch eigentlich ganz gut, nicht wahr, Yuriko?“
Jetzt breitete sich in ihrem Körper ein wohliges Kribbeln aus, denn er hatte recht — sie liebte es, wenn er ihren Namen sagte. Es brachte sie immer wieder aus der Fassung.
„Ich sollte jetzt auflegen und versuchen zu schlafen“, erwiderte sie ein wenig atemlos, sah zur Ablenkung auf die kleine Gestalt neben sich hinab, die mittlerweile wieder tief und fest schlief, und senkte ihre Stimme zu einem leisen Flüstern. „Sonst wacht sie gleich wieder auf.“
Sie schwieg kurz. „Gute Nacht, Vian. Ich liebe dich. Meld dich bald wieder, ja? Du fehlst uns.“
„Und ihr fehlt mir. Schlaf gut. Ich melde mich wieder sobald ich kann. Ich liebe dich, Yuriko.“
Dann legte er auf.
Das Freizeichen klang noch einen Moment in ihrem Ohr, bevor Yuriko das Telefon aus der Hand und auf den Nachtschrank legte. Neben ihrer Tochter rollte sie sich ein, zog das kleine Mädchen sacht in ihren Arm, ohne es zu wecken und schloss die Augen. Sie konnte nur hoffen, ebenso schnell einzuschlafen wie ihre kleine Tochter.
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