Der Rest der Nacht verging viel zu schnell.
Nachdem Yuriko und Vian einander geliebt und sich anschließend in Ruhe für den Tag fertiggemacht hatten, war er gegangen um die Kinder zu wecken, sodass sie noch miteinander frühstücken konnten. Bisher wussten weder ihr fünfjähriger Sohn, noch seine zwei Jahre jüngere Schwester, dass ihr Vater in ein paar Stunden verreisen musste.
Yuriko machte sich Gedanken darüber, wie die beiden die Neuigkeit aufnehmen würden. Sie wusste, Joié würde es wahrscheinlich besser wegstecken als Aiden, der häufig so war, wie sie sich Vian als Kind immer vorstellte.
Einen Moment lang beobachtete Yuriko ihren Mann dabei, wie er auf leisen Sohlen im Kinderzimmer des Jungen verschwand, bevor sie sich zur Treppe wandte und hinunter in den Wohnbereich des kleinen Hauses ging.
Am Ende der Stufen angekommen, bückte sie sich einmal um Chief, dem Australian Shepherd, über den schlanken Kopf zu streichen. Sie musste lächeln, als das Tier treu zu ihr auf blickte und sich dann erhob um ihr, freudig mit der Rute wedelnd, zur Terrassentür zu folgen.
„Bis gleich, Großer“, meinte sie, als sie den Hund hinaus in den Garten ließ. Den morgendlichen Spaziergang würden sie nach dem Frühstück und Vians Abreise nachholen.
Chief war seit zweieinhalb Jahren Teil ihrer Familie und seine Erziehung war vor allem Vian sehr wichtig gewesen. Er hatte viel Zeit und Mühe investiert und eine enge Beziehung zu Chief aufgebaut. Außerdem hatten sie gemeinsam eine Rettungshundeausbildung absolviert. Es war bereits einige Male vorgekommen, dass Vian den Rüden zu einem Einsatz mitgenommen hatte. Meist war Chief jedoch einfach nur ein Teil ihrer Familie. Die Kinder liebten ihn und auch Yuriko ging es nicht anders.
Sie sah dem Tier einen Augenblick hinterher und schlenderte dann an dem großen Klavier vorbei, hinüber in die Küche um das Frühstück zuzubereiten. Routiniert holte sie die Zutaten hervor und mischte alles zu einem flüssigen Teig zusammen.
Früher hatte Yuriko immer vehement widersprochen, wenn andere behauptet hatten, sie würde innerhalb weniger Monate zur stereotypischen Hausfrau und Mutter werden, sobald sie Vian heiratete. Mittlerweile fragte sie sich, was sie an dem Gedanken so schlimm gefunden hatte auch wenn sie sich nicht als stereotypisch bezeichnen würde.
Natürlich war sie bisher viel mit den Kindern beschäftigt gewesen. Aber trotzdem hatten sie und Vian ihre Beziehung in den letzten Jahren weiter festigen können und viel über den jeweils anderen gelernt. Außerdem ging auch Joié seit wenigen Monaten in den Kindergarten, sodass Yuriko wieder zeitweise als Anästhesieschwester arbeiten konnte.
Sie liebte ihren Beruf sehr. Heute arbeitete sie zu festgelegten Zeiten unter der Woche, hatte weder Spät- noch Nachtdienste zu bestreiten, sodass sich Berufs- und Privatleben recht gut miteinander kombinieren ließen. Da Vian meist von Zuhause arbeitete, unterstützte er sie wo immer er konnte. Dennoch war sie abends, nach einem langen Tag im OP, oft am Ende ihrer Kräfte.
Mit einem kleinen Lächeln holte die junge Frau eine Pfanne hervor, stellte sie auf dem Gasherd ab. Aus dem oberen Stockwerk konnte sie lautes Kichern hören, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass Vian in der Zwischenzeit auch ihre Tochter geweckt hatte.
Nachdem Yuriko etwas Teig in die heiße Pfanne gegeben hatte, machte sie sich daran, auch das Frühstück ihres tierischen Mitbewohners vorzubereiten. Sie füllte etwas Futter in seinen Napf, wusch sich anschließend die Hände und rief die Treppe hinauf ins obere Stockwerk: „Wenn ihr die Pfannkuchen warm essen wollt, solltet ihr gleich mal nach unten kommen.“
Wieder hörte sie von oben lautes Lachen und wandte sich mit einem lächelnden Kopfschütteln wieder der Pfanne zu.
Vian hielt seine Tochter im Arm und schaute Aiden dabei zu, wie er mit wilden Handbewegungen von dem Traum erzählte, den er in der vergangenen Nacht gehabt hatte. Der Anblick seiner Kinder gab ihm immer ein Gefühl des inneren Friedens, hatte er doch sein Leben lang dafür gekämpft, sie in Frieden aufwachsen zu sehen.
Und auch heute kämpfte er noch darum, wusste er doch, wie schnell sich ein Konflikt ausweiten und auf ein anderes Land überschlagen konnte.
Die kleine Gestalt auf seinem Arm schüttelte sich vor Lachen über die Erzählung ihres Bruders und holte ihn so zurück in die Gegenwart.
„Aiden, du bist würklich verrückt, dass du so was träumst.“
Das kleine Mädchen hielt ihr Lieblingsstofftier, einen kleinen braunen Otter, fest im Arm, während sie sich an Vian schmiegte und ihrem Bruder einen ungläubigen Blick zu warf.
„Man, Jo, nur, weil du keine Ahnung von Superhelden hast, heißt das noch lange nicht, dass mein Traum nicht stimmt“, erwiderte der Fünfjährige jetzt ein wenig verärgert und wandte sich gleich wieder seinem Vater zu.
„Jedenfalls, und dann bin ich, also als Superheld, über die Stadt geflogen, also wirklich geflogen, und hab so Strahlen abgeschossen, wie Laser, so: Peuw peuw peuw! Das war voll cool, Dad! Meinst du, Raik kann mir so Laser organisieren, wenn ich ein bisschen älter bin?“
Passend zu den Geräuschen hatte Aiden seine Hände so bewegt, als würden die Laserstrahlen aus seinen Handflächen schießen und brachte Vian damit wieder zum Lächeln.
„Das klingt nach einem spannenden Traum, Aiden, wirklich. Mit den Lasern warten wir lieber, bis du viel älter bist, glaube ich.“
Mit einem Augenzwinkern hob er die Hand und wuschelte seinem Sohn durchs Haar, der ihm daraufhin nur einen beleidigten Blick zu warf.
Er konnte nicht anders als schmunzeln.
Er fühlte sich hier, zwischen seinen Kindern, die noch ihre quietschbunten Schlafanzüge trugen, pudelwohl. Jetzt wandte er sich seiner Tochter zu, die sich vertrauensvoll an seine Brust schmiegte, den Daumen im Mund und den Kuschelotter im Arm.
„Und was hast du geträumt, Engel?“
Grinsend beobachtete er, wie Jo ihren Daumen aus dem Mund zog und ihn mit großen Augen ernst anblickte.
„Ich hab auch so... wie heißt das?“
Sie runzelte die Stirn, dachte offenbar sehr angestrengt nach, bevor sie einmal mit den Schultern zuckte und verkündete: „Na, so Strahlen abgeschossen. Und Ottie und ich haben Aiden nämlich voll besiegt, würklich, Daddy, weil der war nämlich voll schwach.“
Vian lachte leise in sich hinein und strich seinem kleinen Mädchen mit der Hand über den Haarschopf, der nur ein wenig heller war, als der ihrer Mutter.
„Ach, war das so?“
Während das kleine Mädchen heftig mit dem Kopf nickte, setzte Aiden sich mit einem Plumps neben Vian aufs Bett.
„Das denkt sie sich jetzt sowieso nur aus...“
Mit einem gequälten Gesichtsausdruck streckte der dunkelhaarige Junge seiner Schwester die Zunge heraus.
„Und außerdem heißt es wirklich, Jo, nicht würklich.“
Auch sie steckte jetzt ihre kleine Zunge zwischen den Lippen hervor und meinte: „Das ist mir doch egal, weil ich nämlich würklich sage!“
Zufrieden mit ihrer Argumentation lehnte sich die Kleine wieder zurück und steckte ihren Daumen zurück in den Mund.
Als Antwort ließ ihr Bruder nur ein leises Schnaufen hören, zögerte kurz, schnappte sich dann mit einer schnellen Handbewegung das Kuscheltier seiner Schwester, sprang wieder auf und lief aus dem Zimmer.
Empört nahm Joié ihren Daumen wieder aus dem Mund, hüpfte vom Schoss ihres Vaters und lief Aiden hinterher so schnell sie ihre kurzen Beinchen trugen. „He, lass Ottie frei!“
Mit einem leisen Lachen stand auch Vian auf und folgte den beiden Kindern aus dem Raum. „An der Treppe wird nicht gerannt!“, ermahnte er noch einmal streng, bevor er sich auf die Jagd nach den beiden machte.
Nur wenige Augenblicke später war der Spaß schon wieder vorbei. Aiden hatte den kleinen Otter ins Schlafzimmer seiner Eltern entführt und sich mit ihm im begehbaren Kleiderschrank versteckt.
Seine kleine Schwester war ihm mit tapsenden Schritten gefolgt und auf dem Weg aus keinem ersichtlichen Grund wohl über ihre eigenen Füße gestolpert. Dabei hatte sie sich den Kopf leicht an einer der Kommoden angeschlagen und zu weinen begonnen, wohl eher vor Schreck als vor Schmerz.
Zu diesem Zeitpunkt war Vian bereits in der Tür gewesen, hob seine Tochter hoch und legte ihr eine Hand auf den Hinterkopf. Beruhigend wippte er sie auf seinem Arm leicht auf und ab, murmelte leise Worte und strich ihr durchs Haar. Die kleine, rundliche Erhebung, die er an ihrer Stirn erkennen konnte, machte ihm ein wenig Sorgen, doch er wusste, dass es besser war, dem Kind das nicht mitzuteilen.
Nun kam auch Aiden wieder aus seinem Versteck hinter einer voll behängten Kleiderstange hervor, legte den Kopf etwas schief und beobachtete seine kleine Schwester einen Moment skeptisch, bevor er ihr das Stofftier entgegenstreckte.
„Hier hast du Ottie wieder, Jo.“
Stirnrunzelnd warf er seiner Schwester einen Blick zu.
„Hör bitte auf zu weinen, ja? Es tut gleich bestimmt nicht mehr weh."
Vian lächelte und strich seinem Sohn kurz über den Kopf, bevor er das Stofftier nahm und es Joié reichte, die sich bereits wieder beruhigte.
„Danke, Aiden. Na, Jo, was meinst du, hätte Ottie Lust auf ein paar Pfannkuchen? Ich glaube, ich kann da was aus der Küche riechen.“
Er erwiderte den Blick seiner Tochter mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue, bis sie das Stofftier nahm und einmal schniefend nickte.
„Na gut, dann mal los. Mum fragt sich bestimmt auch schon, wo wir bleiben.“
Gerade war Yuriko dabei gewesen, den Tisch zu decken, als sie von oben das Weinen ihrer Tochter gehört hatte. Mit einem Stirnrunzeln stellte sie die Teller auf dem großen Holztisch ab und sah zur Treppe hinüber.
Schon im nächsten Moment klang das Weinen ab und nur wenig später, als sie dabei war, den letzten Pfannkuchen zu wenden, kamen die drei die Treppe hinunter. Vian trug Joié auf dem Arm, Aiden lief vorweg und hielt sich am Treppengeländer fest.
„Jo ist hingefallen“, verkündete ihr Sohn kurz angebunden und ließ sich auf seinen Platz am Tisch fallen.
Mit einer Handbewegung stellte Yuriko den Gasherd aus, stemmte empört die Hände in die Seiten, warf ihrem Sohn aber einen nachsichtigen Blick zu.
„Dir auch einen guten Morgen, Aiden. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.“
Sie ging zu ihm hinüber und er drückte ihr einen Kuss auf die Wange, als sie sich zu ihm hinunter beugte und grinste ihr schelmisch zu. Wie jeden Morgen knuddelte sie ihn einmal ordentlich durch. Dann richtete sie sich wieder auf und streckte die Hände nach ihrer Tochter aus, um sie Vian abzunehmen.
Besorgt schaute sie sich die wachsende Beule einen Moment an und drückte der Kleinen einen Kuss auf die Stirn. „Wieso bist du denn gefallen, Süße?“
Mit großen, rundlichen und leicht geröteten Augen wurde ihr Blick erwidert.
„Aiden hat mir Ottie weggenommen und dann bin ich gefallen, weil ich wollte ihn doch wiederhaben, Mummy. Das war würklich nicht nett von Aiden, mir Ottie wegzunehmen.“
Lächelnd nickte Yuriko ihr zu und wandte sich zurück an ihren Sohn. „Aiden, was sagst du denn dazu?“
Gemeinsam mit Jo ließ sie sich auf den Stuhl neben dem Jungen sinken und sah ihn dabei weiter an.
Aiden hatte einen bockigen Gesichtsausdruck aufgesetzt, einen Ellenbogen auf die Tischplatte gestellt und das Kinn in die Hand gestützt. Fast gelangweilt sah er seine Mutter und Schwester an.
„Ja, gut, 'tschuldigung. Aber dann soll sie halt auch aufhören, mir immer alles nachzumachen. Weil ich hab nämlich von den Laserstrahlen geträumt und nicht sie. Und trotzdem sagt sie das einfach.“
Jetzt verschränkte er seine Arme vor der Brust, lehnte sich an die Rückenlehne des Stuhles, womit er seiner Mutter wieder ein Lächeln entlockte. Er war einfach goldig wenn er sauer war, fand sie.
Vian hatte mittlerweile die Pfannkuchen aus der Küche geholt und verteilte sie auf den Tellern, während er sagte: „Aiden, vielleicht hat Jo dich einfach so lieb, dass sie genau so sein will wie du."
Er ließ sich auf den Stuhl neben Aiden sinken und zwinkerte ihm zu. Aiden zuckte nur noch einmal mit den Schultern.
„Aber lieb von dir, dass du dich noch einmal entschuldigt hast. Ich hab dich lieb, weißt du das?“
Sein Sohn reagierte nicht mit Worten auf Vians Wispern aber das strahlende Lächeln war ihm Antwort genug.
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